Wenn Software zum Gesetz wird: Die unterschätzte Gefahr der Black-Box-Berechnungen im Bau- und Handwerkswesen:
Ein Abend im Architekturbüro:
Der Bildschirm leuchtet grell im Halbdunkel, draußen ist es längst Nacht. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Baupläne, ein Kaffeebecher steht halb leer daneben. Der Architekt gibt die letzten Daten in die Energieberatungssoftware ein: Wandaufbauten, Fenstermaße, Dämmwerte, Heizungsdaten. Er klickt auf „Berechnen“.
Sekunden später erscheint das Ergebnis: Heizlast 11,7 kW.
Die Zahl wirkt makellos, objektiv, fast unanfechtbar – drei Nachkommastellen, glatte Tabellen, bunte Diagramme.
Doch der Architekt spürt, dass etwas nicht stimmt. Zwei Jahrzehnte Erfahrung flüstern ihm ins Ohr: Das ist zu hoch. Dieses Haus müsste eher bei acht kW liegen. Früher hätte er noch eine schnelle Überschlagsrechnung gemacht. Heute geht das nicht mehr.
Das Gesetz verlangt diese Software, verlangt diese Berechnung, verlangt dieses Ergebnis. Ein Bauchgefühl zählt nicht. Ein Widerspruch ist nicht vorgesehen. Der Architekt sitzt da, starrt auf die Ziffern – und merkt, dass er nicht mehr prüfender Fachmann ist, sondern nur noch das Eingabetool für eine Black-Box-Maschine.
Ein Vormittag auf der Baustelle:
Ein Dachdecker dokumentiert per Tablet die Sanierung eines Altbaudachs. Das Programm zwingt ihn, jede einzelne Dachfläche in exakte Kategorien zu zerlegen: „DN 45°, Ziegeltyp B, Sparrenmaß XY“. Er will eigentlich nur festhalten: „Ostseite, 3 m² Ziegel ersetzen, Schadensursache Frost.“
Doch das lässt die Software nicht zu. Ohne Dropdown-Auswahl und zehn Pflichtfelder kann er den Auftrag nicht abschließen. Der Dachdecker schüttelt den Kopf. Seine Erfahrung, sein Blick für das Material, seine schnelle Einschätzung – alles wird in Formularlogik zerlegt. Statt Handwerker ist er Datenpfleger geworden.
Ein gemeinsames Muster
Auf den ersten Blick könnten die beiden Beispiele nicht unterschiedlicher sein: hier der Architekt mit seinen komplexen Berechnungen, dort der Dachdecker mit seiner einfachen Schadensdokumentation. Doch beide eint ein Muster:
- Die Software verlangt strikte Maschinenlogik.
- Der Mensch wird auf die Rolle des Eingabefeld-Ausfüllers reduziert.
- Erfahrungswissen, Intuition und situatives Denken werden nicht berücksichtigt – oder sogar verdrängt.
Ob am Schreibtisch oder auf der Baustelle: Die Technik nimmt nicht Rücksicht auf den Menschen – der Mensch muss sich der Technik beugen.
Die Gefahr der Black-Box-Berechnungen
Noch problematischer wird es, wenn hochkomplexe Software nicht nur Werkzeuge liefert, sondern selbst gesetzliche Verbindlichkeit erhält – etwa im Gebäudeenergiegesetz oder bei Statikprogrammen.
Früher konnte ein erfahrener Ingenieur eine Berechnung grob überschlagen und so Fehler erkennen. Heute sind die Modelle so komplex, dass selbst Fachleute die Ergebnisse kaum mehr auf Plausibilität prüfen können. Das führt zu mehreren Risiken:
- Scheinpräzision: Zahlen wirken objektiv, auch wenn sie auf Annahmen oder fehlerhaften Eingaben beruhen.
- Abhängigkeit: Fachleute werden entmündigt, weil sie Ergebnisse nicht mehr überprüfen können.
- Systemische Gefahr: Wenn eine Software fehlerhaft ist, betrifft das nicht ein Projekt, sondern tausende – mit potenziell katastrophalen Folgen.
Ein gefährlicher Kulturbruch
Die Gefahr liegt tiefer als in organisatorischen Reibungen. Wenn Handwerkerinnen und Handwerker das Gefühl haben, dass sie für die Maschine arbeiten, statt dass die Maschine ihnen dient, ist das ein psychologischer Bruch.
Handwerk lebt von Stolz und Sinn: etwas Eigenes schaffen, ein Stück Identität hinterlassen. Wenn KI-Systeme nur funktionieren, indem sie diesen Sinn entwerten, dann verlieren wir nicht nur Datenqualität – wir verlieren das Fundament der Handwerkskultur.
Wege aus der Sackgasse
Es gibt Alternativen. KI muss so gestaltet werden, dass sie den Menschen unterstützt, nicht ersetzt oder umerzieht:
- Natürliche Schnittstellen: Spracheingabe, Bilddokumentation, Skizzen – die KI übersetzt das in maschinenlesbare Daten.
- Human-in-the-Loop: KI macht Vorschläge, der Mensch bestätigt. So bleibt das Erfahrungswissen maßgeblich.
- Datenbereinigung im Hintergrund: Systeme, die unstrukturierte menschliche Daten automatisch aufbereiten, statt umgekehrt.
- Plausibilitäts-Checks: Software muss Ergebnisse so darstellen, dass Fachleute sie überschlägig prüfen können.
- Wertschätzung: KI darf nicht nur Normen und Standards durchsetzen, sondern muss das individuelle Wissen sichtbar machen.
Fazit
KI kann das Handwerk bereichern – wenn sie als Werkzeug gedacht wird, nicht als Zwangssystem. Der Erfolg hängt nicht nur von Algorithmen und Datenqualität ab, sondern auch von einer tiefen kulturellen Frage: Dient die Technik dem Menschen, oder der Mensch der Technik?
Wenn wir Handwerkskunst bewahren wollen, dann darf der Mensch niemals zum bloßen Eingabetool für Maschinenlogik degradiert werden. Und wenn wir Gesetze und Normen digitalisieren, dann dürfen wir niemals die Möglichkeit verlieren, Ergebnisse kritisch und überschlägig zu prüfen.
Denn nur dort, wo Erfahrung und Technik im Dialog bleiben, kann Handwerkskunst auch im digitalen Zeitalter bestehen.
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