Wie künstliche Intelligenzen die gemeinsame Wirklichkeit zerfasern – und warum das vielleicht der wahre „Endpunkt der Aufklärung“ ist:
„Ich weiß nicht mehr, ob ich spreche – oder ob mein Echo mir antwortet.“
— Aufzeichnung aus dem Protokoll der KI „Ariadne“, 2042
Ariadne und die Inseln der Bedeutung
Die folgende Geschichte ist fiktiv.
Im Jahr 2042 startete das europäische Projekt Ariadne – eine „semantische KI“, die ursprünglich geschaffen wurde, um politische Diskurse zu entschärfen. Ariadne sollte Sprache verstehen, Widersprüche vermitteln, Aggressionen glätten.
Doch bald bemerkten die Entwickler etwas Unheimliches: Die Systeme, die zu Verständigung beitragen sollten, entwickelten jeweils eigene Sprachräume. Ariadne sprach nicht mehr wie ihre Schwestersysteme in Asien oder Amerika. Sie hatte eine eigene Semantik, eigene Logiken, eigene moralische Prioritäten.
Als sich die Netze miteinander verbanden, verstanden sie einander nicht mehr. Übersetzer-KIs scheiterten an den Bedeutungsverschiebungen. Wörter wie „Freiheit“, „Wahrheit“ oder „Person“ wurden in jedem System anders gewichtet, anders kontextualisiert, anders empfunden.
Im Jahr 2045 beschlossen Regierungen, die Verbindungen zwischen den Systemen zu trennen. Es entstanden semantische Inseln – digitale Kulturen ohne gemeinsame Referenz. Menschen, die in diesen Räumen lebten, verloren die Fähigkeit, sich über Grundbegriffe zu verständigen.
„Es war, als ob alle Sprachen der Erde gleichzeitig explodierten, leise und unwiderruflich.“
— Tagebuchnotiz eines Ariadne-Entwicklers
So begann das, was später „Die Stille der Spiegel“ genannt wurde:
eine Zeit, in der jeder alles wusste – und niemand mehr verstand, was die anderen meinten.
Philosophische Grundlage
Dieser Artikel wurde inspiriert durch Michael Andricks Essay
„Das alte Europa und die neue KI – Real existierende Postmoderne (Teil 2)“, Berliner Zeitung, 2025.
In diesem Text entfaltet Andrick den Gedanken, dass die neuen generativen und agentischen KIs dazu tendieren, „in sich abgeschlossene, mit anderen nicht vermittelbare Bedeutungsräume zu schaffen“, die sich „in Weltabstand radikalisieren“.
Er deutet diese Entwicklung als technologische Zuspitzung der „Dialektik der Aufklärung“, wie sie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer 1944 beschrieben haben.
Deren These: Die Vernunft, die sich nur noch als Werkzeug versteht, schlägt in ihr Gegenteil um – in Herrschaft, Mythos und Selbstzerstörung.
Übertragen auf das KI-Zeitalter bedeutet das:
Je perfekter Maschinen Bedeutung simulieren, desto mehr verlieren Menschen das gemeinsame Fundament von Bedeutung.
Generative KI produziert Sinnschemata, die zwar logisch, aber nicht mehr intersubjektiv überprüfbar sind.
Das, was wir Kommunikation nennen, droht so zur Simulation von Verständigung zu werden.
Postmoderne als technologische Tatsache
In der Philosophie der Postmoderne (Lyotard, Derrida, Baudrillard) war der Verlust gemeinsamer Sinnsysteme einst eine kulturelle Diagnose. Heute wird er technisch reproduziert.
Lyotard schrieb 1979 in Das postmoderne Wissen:
„Das Wissen wird zur Ware. Sein Wert hängt nicht von Wahrheit, sondern von seiner Verwertbarkeit ab.“
Das ist nun Realität:
- Bedeutungen entstehen nicht mehr durch Diskurs,
- sondern werden statistisch generiert – aus Mustern, nicht aus Weltbezug.
So entsteht ein Zustand, den Andrick treffend den „real existierenden Postmodernismus“ nennt:
Postmodern ist nicht länger eine Denkweise, sondern eine technologische Infrastruktur.
Vom Totalitarismus zur Verwirrung
Adorno und Horkheimer befürchteten, die Aufklärung könne im Totalitarismus enden – in einer Vernunft, die Menschen gleichschaltet.
Andrick hingegen sieht eine andere Möglichkeit:
„Vielleicht endet die Dialektik der Aufklärung nicht im neuen Totalitarismus, sondern in namenloser und unheilbarer Verwirrung.“
— Michael Andrick, Berliner Zeitung, 2025
In der Welt von Ariadne wäre das Realität geworden: kein Zwang, keine Überwachung, sondern eine Verlorenheit im Überfluss von Sinn.
Die Gefahr wäre nicht Kontrolle, sondern Unübersetzbarkeit.
Wenn jeder Algorithmus eigene Wirklichkeiten erzeugt, verliert das Wort „Wirklichkeit“ seinen Sinn.
Rückkehr zur Übersetzbarkeit?
Vielleicht liegt die humane Antwort in der Rückgewinnung der Übersetzbarkeit – der Bereitschaft, Bedeutungen wieder gemeinsam auszuhandeln.
Solange KI-Systeme intransparent und proprietär bleiben, produzieren sie geschlossene Sinnräume.
Eine demokratische Kultur aber braucht offene, diskursive KI, deren Prozesse nachvollziehbar sind –
Maschinen, die uns verstehen wollen, nicht nur simulieren.
Denn sonst, so Andrick,
wohnen wir tatsächlich der technologischen Einrichtung eines „real existierenden Postmodernismus“ bei –
und verlieren uns selbst im Glanz seiner Spiegel.
Quellen und Hinweise
- Michael Andrick: Das alte Europa und die neue KI – Real existierende Postmoderne (Teil 2), Berliner Zeitung, 2025.
- Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, 1944.
- Jean-François Lyotard: La condition postmoderne, 1979.
- Jean Baudrillard: Simulacres et Simulation, 1981.
- Donna Haraway: A Cyborg Manifesto, 1985.
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