Cybernetic Eye Reflection

Wahrheit im Zeitalter der Simulation

Über Wirklichkeit, Wahrnehmung und das Verschwinden des Ursprungs:

„Wir leben nicht mehr in einer Welt der Realitäten, sondern in einer Welt der Simulationen.“
Jean Baudrillard

Das Schweigen des Originals

Es gibt kaum noch ein „Draußen“ der Darstellung. Alles, was erscheint, erscheint als Bild – und wird so Teil eines Systems von Zeichen, die längst auf nichts mehr verweisen außer auf sich selbst.

Jean Baudrillard nannte diesen Zustand Hyperrealität: Das Abbild hat das Original verdrängt, das Zeichen ersetzt den Bezug.

Doch im Zeitalter der generativen Künstlichen Intelligenz nimmt diese Diagnose eine neue Wendung. Die Simulation ist nicht länger Reproduktion, sie ist Schöpfung geworden. Was sie erzeugt, besitzt keine Quelle – und doch Wirkung.
Die Wahrheit, so scheint es, hat den Ort des Ursprungs verlassen.

Wahrheit als Beziehung

Wahrheit ist kein Zustand, sondern ein Ereignis –
sie geschieht, wenn Denken sich auf Wirklichkeit einlässt.

Michael Andrick beschreibt in „Im Moralgefängnis“, dass unser Diskurs-Elend aus einer Verhaltensweise entsteht, die wir alle beherrschen: Spaltung – die Infektion des Denkens mit dem Virus der Moralisierung.

Für Andrick wird Wahrheit dort unmöglich, wo moralische Haltung an die Stelle von Argumentation tritt. Er ruft zur Rückkehr eines Denkens auf, das sich nicht über seine Tugend legitimiert, sondern über seine Fähigkeit zur Begründung.

Wahrheit ist für ihn kein moralisches Gefühl, sondern ein Akt geistiger Redlichkeit – das Ringen um begründetes Erkennen inmitten einer von Empörung durchzogenen Öffentlichkeit.

Doch gerade dort, wo Denken sich von moralischer Selbstgewissheit befreit und sich der Wirklichkeit stellt, öffnet sich ein zweites Problem: Wer beobachtet eigentlich das Denken beim Denken?

Die Kybernetik des Beobachters

„Objektivität ist die Illusion, dass Beobachtungen ohne Beobachter gemacht werden können.“
Heinz von Foerster

Heinz von Foerster, der Kybernetiker des Selbst, verlagerte die Frage nach der Wahrheit vom Gegenstand auf die Beobachtung. Für ihn war jede Erkenntnis ein Akt der Konstruktion: Wir sehen die Welt nie, wie sie „ist“, sondern immer durch die Strukturen, mit denen wir sie beobachten. Maschinen, die heute Daten verarbeiten und vermeintliche Wahrheiten berechnen, können solche Beobachtungen simulieren – aber sie sind keine Beobachter zweiter Ordnung im strengen Sinn. Sie verfügen weder über Selbstbezug noch über ein Bewusstsein ihrer eigenen kognitiven Bedingungen. Ihre „Wahrnehmung“ bleibt funktional, nicht reflexiv: Sie formen Muster, ohne zu wissen, dass sie formen.

Damit entsteht ein paradoxes Feld: Wir verlassen uns auf Systeme, die nicht verstehen, was sie tun, deren Operationen aber dennoch bestimmen, was wir für real halten.
Wahrheit wird so zu einem Produkt rekursiver Wechselwirkungen – zwischen menschlicher Interpretation und algorithmischer Berechnung.

Die Ethik der Unterscheidung

„Draw a distinction, and a universe comes into being.“
George Spencer-Brown, Laws of Form (1969)

Wenn Beobachten immer Konstruktion ist, beginnt alles mit einer Entscheidung: dem Ziehen einer Linie. George Spencer-Brown zeigte in „Laws of Form“, dass jede Form – jede Bedeutung, jedes Denken – mit einer Unterscheidung beginnt. Mit dem Setzen einer Grenze entsteht Welt.

Von Foerster machte aus dieser Erkenntnis eine Ethik der Wahrnehmung: Wenn jede Beobachtung ein Akt der Formung ist, tragen wir Verantwortung für die Formen, die wir ziehen. Unterscheidung ist nicht nur Analyse, sondern Haltung. Wahrheit ist so gesehen keine Eigenschaft, sondern eine Bewegung zwischen Innen und Außen, zwischen Wahrnehmen und Bewusstwerden. Sie verlangt die Fähigkeit, Grenzen zu ziehen, ohne sie zu verabsolutieren.

Ist Wahrheit heute weniger ein Besitz als eine Haltung der Unterscheidung –
ein Bewusstsein dafür, was durch unser Sehen sichtbar und was unsichtbar wird?

Der Verlust des Zwischen

Wahrheit geschieht dort, wo Resonanz möglich ist – wo etwas zwischen uns in Schwingung gerät. Doch die Simulation ersetzt dieses Zwischen durch Vermittlung: Sie überlagert das dialogische Moment der Erfahrung mit der glatten Oberfläche des Medialen.

Byung-Chul Han spricht in diesem Zusammenhang von der Transparenzgesellschaft: einer Epoche, in der alles sichtbar, aber nichts mehr spürbar ist. Das Glatte verdrängt das Widerständige, Kommunikation ersetzt Begegnung. Der Mensch wird zum Zuschauer seiner eigenen Wahrnehmung. Das Wirkliche zieht sich zurück, und das Reale – im Sinne Lacans – bricht nur noch als Störung durch: in Momenten des Unstimmigen, des Nicht-Reproduzierbaren.

Vielleicht liegt die Aufgabe unserer Zeit nicht darin, das Reale zu „finden“, sondern es wieder zu spüren: das, was sich entzieht, was nicht sofort bildfähig ist.

Eine Ethik des Erkennens

Wenn Wahrheit nicht gegeben, sondern gemacht ist – nicht stabil, sondern ereignishaft –, dann braucht sie eine neue Ethik. Eine Ethik der Achtsamkeit gegenüber der eigenen Beobachterposition.

Von Foerster nannte dies den „ethischen Imperativ“:

„Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird.“

Wahrheit im Zeitalter der Simulation bedeutet demnach nicht, das Falsche zu entlarven, sondern den Möglichkeitsraum des Wahren offenzuhalten.
Nicht jede Darstellung zu glauben, sondern jede Begegnung zu vertiefen.

Vielleicht ist Wahrheit heute weniger ein Besitz als eine Haltung – eine Bereitschaft zur Unterscheidung, verstanden als fortwährende Praxis des Wahrnehmens, Zweifelns und Verbindens.

Wahrheit als Widerstand?

In einer Welt, in der alles simuliert werden kann, wird das Echte nicht verschwinden – aber es wird rar. Wahrheit zeigt sich dort, wo etwas nicht aufgeht in der Logik der Reproduzierbarkeit.
Sie ist Widerstand gegen das Glatte, das Perfekte, das Berechenbare.

Vielleicht liegt im Unvorhersehbaren, im Riss, in der Störung – im Menschlichen selbst – das letzte Refugium des Realen.

Quellen und Anregungen

  • Andrick, Michael: Im Moralgefängnis. Warum wir ein neues Denken brauchen. Quadriga, Köln 2023.
  • Baudrillard, Jean: Simulacres et Simulation. Éditions Galilée, Paris 1981.
  • Eco, Umberto: Travels in Hyperreality. Harcourt Brace Jovanovich, New York 1986.
  • Foerster, Heinz von: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 1998.
  • Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft. Matthes & Seitz, Berlin 2012.
  • Spencer-Brown, George: Laws of Form. Allen & Unwin, London 1969.
  • Floridi, Luciano: The Philosophy of Information. Oxford University Press, 2011.
  • Morozov, Evgeny: To Save Everything, Click Here. PublicAffairs, 2013.

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