analoge Teilhabe

App-gehängt: Die stille Kybernetisierung der Gesellschaft

Warum Deutschland und Europa ein Recht auf analoge Teilhabe brauchen – für Selbstbestimmung, Demokratie und Würde:

Die Digitalisierung schreitet voran – Verwaltung, Verkehr, Gesundheit, Bildung, Kultur: alles wird „smart“. Doch je digitaler die Welt wird, desto stärker wächst auch die Zahl der Menschen, die sich bewusst oder gezwungenermaßen entziehen. Sie sind nicht „technikfeindlich“, sondern verteidigen etwas, das zunehmend bedroht scheint: das Recht, analog zu leben.

Viele von ihnen fühlen sich inzwischen „app-gehängt“ – ein treffendes Wortspiel für eine Gesellschaft, die digitale Teilhabe zur Pflicht erhebt und analoge Alternativen abbaut.

Deutschland: Vom Digitalversprechen zum Digitalzwang

Deutschland hat sich die digitale Verwaltung auf die Fahnen geschrieben. Das Onlinezugangsgesetz (OZG) verpflichtet Bund und Länder, Verwaltungsleistungen digital anzubieten. Was positiv klingt, entwickelt sich vielerorts zu einer Einbahnstraße: immer öfter nur noch online, immer seltener persönlich, telefonisch oder schriftlich.

Der Datenschutzexperte Thilo Weichert warnt:

„Digital only kann diskriminierend, undemokratisch und unsozial sein.“
(taz, 2024)

Denn ausgeschlossen sind nicht nur Menschen ohne Geld, sondern auch jene, die Digitales aus Überzeugung meiden:
Menschen, die Datenschutzrisiken fürchten, ältere Bürger:innen, die analoge Kommunikation schätzen, Menschen mit sensorischen Einschränkungen oder psychischen Belastungen, Eltern, die ihre Kinder nicht früh digitalisieren wollen, oder einfach Menschen, die lieber mit einem Menschen sprechen als mit einem Chatbot.

Leena Simon, Netzphilosophin und Mitautorin des Gutachtens „Ein Recht auf analoge Teilhabe – Freiheit vor Digitalzwang“, bringt es auf den Punkt:

„Diese Menschen haben fast keine Wahl mehr. Terminvereinbarungen bei Behörden oder Fahrkartenkäufe ohne Smartphone sind erschwert oder teurer.“
(Deutschlandfunk Kultur, 2024)

Auch in Schulen wächst der Druck. KI-gestütztes Lernen, Tablets, Cloud-Plattformen – alles scheinbar modern. Doch Kinder, die durch Tun und sinnliche Erfahrung lernen, verlieren Erfahrungsräume. Eltern, die dies kritisch sehen, finden kaum noch Alternativen.

Und während die Verwaltung digitalisiert wird, verschwinden analoge Bürgerbüros, Papierformulare und Bargeld-Zahlungen.
Diejenigen, die lieber analog bleiben, geraten in eine stille Form von Diskriminierung – nicht wegen mangelnder Anpassung, sondern wegen eines anderen Verständnisses von Selbstbestimmung.

Europa: Digitale Inklusion ohne analoge Freiheit

In der EU wächst die Sorge über die digitale Kluft – die „digital divide“.
Programme wie der Digital Decade 2030 oder der European Accessibility Act wollen den Zugang zu Technologie erleichtern und Barrieren abbauen.
Doch was fast nirgends geregelt ist, ist das Recht auf Nicht-Digitalität: das Recht, sich Technologien zu entziehen, ohne gesellschaftliche Nachteile zu erleiden.

Gerade in Frankreich wird heftig darüber gestritten:
Ein Bericht des Sénat (2025) kritisierte die „dématérialisation“ – die vollständige Digitalisierung staatlicher Verfahren – als „un nouveau mur administratif“. Menschen ohne digitale Kompetenzen oder Geräte würden effektiv von Grundrechten ausgeschlossen.
Der Défenseur des droits forderte daraufhin, analoge Alternativen gesetzlich zu sichern.

In den nordischen Ländern wiederum wurde erkannt, dass zu viel Digitalisierung die Gesellschaft verletzlich macht:
Schweden führte 2021 neue Pflichten für Banken ein, Bargelddienste in allen Regionen bereitzustellen – als Reaktion auf eine Phase, in der viele Geschäfte keine Barzahlung mehr akzeptierten.

Global: Digitale Souveränität versus digitaler Zwang

Weltweit warnen Institutionen wie die UNESCO, UN-Menschenrechtsrat und UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) vor digitaler Ausgrenzung.
Sie betonen: Zugang zu Informationen und staatlichen Leistungen muss menschenrechtskonform sein – also auch analog möglich, wenn digitale Systeme unzugänglich oder unzumutbar sind.

Ein bemerkenswertes Beispiel liefert Indien:
Das biometrische Identifikationssystem Aadhaar wurde vom Obersten Gericht 2018 nur unter der Bedingung zugelassen, dass niemand benachteiligt werden darf, der keinen digitalen Zugang hat. Ein klares Signal gegen digitalen Zwang.

Institutionen und NGOs im Einsatz

Mehrere Organisationen in Deutschland und Europa setzen sich inzwischen für ein Recht auf analoge Teilhabe ein:

  • Digitalcourage e. V. – kämpft für Datenschutz, Freiheitsrechte und gegen Digitalzwang.
  • Netzwerk Datenschutzexpertise – erstellt juristische Gutachten zum Recht auf analogen Zugang.
  • Der Paritätische Gesamtverband und Caritas – warnen vor sozialer Ausgrenzung durch rein digitale Verwaltungswege.
  • Rosa-Luxemburg-Stiftung – betont, dass digitale Teilhabe soziale und demokratische Fragen berührt.
  • European Disability Forum (EDF) – fordert EU-weit verbindliche Regeln, um Menschen mit Behinderung nicht von digitalen Prozessen auszuschließen.
  • UNESCO / UNICEF – mahnen an, dass Digitalisierung Bildung nicht ersetzen darf, sondern ergänzen soll.

Nächste Schritte: Ein Plädoyer für Wahlfreiheit

  1. Gesetzliches Recht auf analoge Teilhabe in Verwaltung, Gesundheit, Verkehr und Bildung.
  2. Verpflichtende analoge Alternativen bei digitalen Pflichtdiensten.
  3. Partizipative Entscheidungsprozesse, in denen Bürger:innen mitgestalten, wie viel Digitalisierung sie wollen.
  4. EU-Initiative „Right to Remain Analog“, die Wahlfreiheit europaweit schützt.
  5. Kulturelle Neubewertung des Analogen – nicht als Rückschritt, sondern als Teil menschlicher Vielfalt.

Fazit: Das Analoge ist kein Relikt – es ist ein Freiheitsraum

Digitalisierung ist kein Selbstzweck.
Wenn sie Teilhabe nur für jene ermöglicht, die digital bereit sind, dann ist sie kein Fortschritt, sondern eine neue Form der Ausgrenzung.

„Freiheit bedeutet auch, Nein sagen zu können –
zu Technologien, die uns mehr beherrschen als befreien.“
– Leena Simon, Netzphilosophin

Ein demokratischer Staat muss beides schützen:
das Recht auf digitale Teilhabe – und das Recht, analog zu bleiben.
Denn wer keine Wahl mehr hat, ist nicht modernisiert, sondern entmündigt.

Quellen

  • Netzwerk Datenschutzexpertise: Ein Recht auf analoge Teilhabe – Freiheit vor Digitalzwang (2024)
  • Digitalcourage e. V.: Rechtsgutachten zum Digitalzwang (2024)
  • Deutschlandfunk Kultur: „Analog statt app-gehängt“ (Interview mit Leena Simon, 2024)
  • taz: Leben ohne Smartphone und Computer (Interview mit Thilo Weichert, 2024)
  • Bundestag: WD-Gutachten zur Zulässigkeit digital-only-Verfahren (2024)
  • Sénat (Frankreich): Rapport sur la dématérialisation et l’exclusion administrative (2025)
  • European Disability Forum: Digital Accessibility and Inclusion Report (2024)
  • UNESCO / UNICEF: Reimagining Education in the Digital Age (2023)
  • Oberster Gerichtshof Indien: Aadhaar Judgement (2018)

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