Von der Radiologie in Berlin bis zur Genomforschung in Helsinki – KI revolutioniert die Medizin, aber nicht ohne Risiken:
Kaum ein Thema verändert die moderne Medizin so tiefgreifend wie Künstliche Intelligenz (KI). In Deutschland, der Schweiz und ganz Europa testen Krankenhäuser Systeme, die Tumore markieren, Schlaganfälle schneller erkennen oder den klinischen Alltag entlasten sollen. Die Technologien entwickeln sich rasant — und mit ihnen die Diskussionen über Verantwortung, Ethik und Sicherheit.
Der Kardiologe und KI-Pionier Eric Topol bringt die neue Rollenverteilung auf den Punkt:
„Künstliche Intelligenz wird Ärztinnen und Ärzte nicht ersetzen – aber Ärztinnen und Ärzte, die KI nutzen, werden diejenigen übertreffen, die es nicht tun.“
— Dr. Eric Topol
Damit macht er klar: KI ist ein Werkzeug — kein Ersatz für medizinisches Denken.
Radiologie: Deutschlands Kliniken im Wandel
Kaum ein Fachgebiet hat KI so früh und intensiv integriert wie die Radiologie. An der Charité in Berlin, am Universitätsklinikum Essen, in München, Heidelberg oder Tübingen unterstützen KI-Systeme Ärztinnen und Ärzte bei der Analyse komplexer Bilddaten — sei es bei Lungenknoten, Gehirntumoren oder Wirbelsäulenanomalien.
Prof. Marc Dewey von der Charité betont:
„KI kann uns helfen, Routineaufgaben zu automatisieren und unsere Zeit für komplexe Fälle freizusetzen.“
Die Systeme markieren Auffälligkeiten, quantifizieren Veränderungen und schlagen mögliche Diagnosen vor – doch die letztendliche Bewertung bleibt menschlich.
Wenn KI falsch liegt: Der Fall der diagnostizierten Nierensteine
Wie wichtig diese menschliche Kontrolle ist, zeigt ein Fall aus Deutschland besonders deutlich:
Ein Patient erhielt die Diagnose massive beidseitige Nierensteine, basierend auf der automatisierten Analyse eines CT-Bildes. Eine Operation wurde empfohlen. Spätere Untersuchungen ergaben jedoch: Die vermeintlichen Steine waren Kontrastmittelartefakte – die KI hatte Strukturen fehlinterpretiert. Dieser Fall macht deutlich: KI kann Muster erkennen, aber sie versteht keine medizinischen Zusammenhänge.
Onkologie und Pathologie: Rechenleistung trifft Präzisionsmedizin
Am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg entwickeln Forschende KI-Systeme, die Tumorgewebe digital analysieren. Sie können Tumorarten klassifizieren, Mutationen aus Bilddaten ableiten und das Therapieansprechen prognostizieren.
Auch hier mahnt Prof. Thomas Fuchs, einer der führenden europäischen Experten für medizinische KI:
„KI ist unglaublich mächtig, aber sie muss mit Demut und unter menschlicher Aufsicht eingesetzt werden.“
— Prof. Thomas Fuchs
Damit beschreibt er eine der wichtigsten Grundregeln für die Zukunft der Diagnostik: KI darf Entscheidungen unterstützen – aber niemals ersetzen.
Augenheilkunde: Präzision auf OCT-Bildern
In London entwickelte das Moorfields Eye Hospital in Zusammenarbeit mit DeepMind eines der leistungsfähigsten Systeme zur Diagnose von Netzhauterkrankungen. Auch deutsche Kliniken – besonders in Tübingen und Bonn – arbeiten intensiv mit KI-basierten OCT-Analysen.
Die Technologie erkennt:
- diabetische Retinopathie
- Makuladegeneration
- seltene Netzhauterkrankungen
Früherkennung ist hier entscheidend – und KI kann genau dabei helfen.
Neurologie: KI im Rettungswagen
In Finnland entwickelt das Helsinki University Hospital KI-Systeme, die Schlaganfälle schon im Rettungswagen erkennen sollen – mithilfe kompakter CTs und mobiler Bildanalyse. Der Zeitgewinn könnte schwere Folgeschäden verhindern.
Chirurgie: KI als Navigationshilfe im OP
In OP-Sälen europäischer Kliniken – etwa in Essen, Zürich oder Bern – unterstützt KI Chirurginnen und Chirurgen bei der Orientierung. Sie markiert Tumorränder, zeigt Gefäße an und macht Strukturen sichtbar, die schwer zu erkennen sind.
Komplett autonome Roboter sind allerdings Zukunftsmusik – aktuell ist KI ein präziseres Navigationsinstrument, nicht mehr.
Risiken und Herausforderungen: Der Preis der Präzision
So viel Potenzial die Technologie hat, so groß sind auch ihre Risiken. Ohne sie klar zu benennen, lässt sich KI nicht verantwortungsvoll nutzen.
Fehldiagnosen
Falsch interpretierte Bilder – etwa Artefakte, seltene Krankheitsbilder oder ungewöhnliche Anatomien – können schwerwiegende Folgen haben.
Bias
Wenn bestimmte Gruppen in den Trainingsdaten fehlen oder unterrepräsentiert sind, entstehen systematische Diagnosefehler – besonders bei:
- dunkler Haut
- sehr jungen oder alten Patient*innen
- seltenen Erkrankungen
Black-Box-Entscheidungen
KI trifft Entscheidungen, deren Logik oft nicht nachvollziehbar ist. Das erschwert klinische Verantwortung und Patientenaufklärung.
Rechtliche Unsicherheit
Der EU AI Act schafft erstmals klare Vorgaben, aber die praktische Frage bleibt:
Wer haftet bei einem KI-Fehler – Arzt, Klinik, Hersteller?
Europa ringt noch um Antworten.
Schleichender Kompetenzverlust
Eine oft unterschätzte Gefahr ist der schleichende Verlust diagnostischer Fähigkeiten, wenn sich medizinisches Personal zu sehr auf KI verlässt. Je häufiger Systeme Bilder auswerten oder Befunde strukturieren, desto weniger Routine entwickeln junge Ärztinnen und Ärzte in der eigenen Analyse.
Langfristig besteht das Risiko, dass:
- menschliche Expertise erodiert,
- kritisches Hinterfragen seltener wird
- und Abhängigkeiten von Systemen wachsen, deren Fehler unentdeckt bleiben.
Gerade deshalb bleibt die ärztliche Prüfung unersetzlich.
Fazit: KI ist ein Werkzeug – und Werkzeuge brauchen Kontrolle
Künstliche Intelligenz kann Diagnosen beschleunigen, Behandlungen präziser machen und Fachpersonal entlasten. Doch so weitreichend ihre Möglichkeiten sind: Sie bleibt ein Hilfsmittel.
Ein Werkzeug:
- das unterstützt,
- aber nicht entscheidet,
- das Vorschläge macht,
- aber keine Verantwortung trägt.
Die größte Gefahr besteht nicht darin, dass KI zu mächtig wird, sondern dass Menschen ihr zu viel Macht einräumen. Die Medizin der Zukunft braucht daher vor allem eines: Fachpersonal, das KI kompetent nutzt – und ihre Ergebnisse kritisch, aufmerksam und verantwortungsvoll kontrolliert.
Quellenangaben (Auswahl)
- Charité – Universitätsmedizin Berlin: Publikationen zu KI in der Radiologie
- Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ), Heidelberg – KI-Projekte in der Onkologie
- Moorfields Eye Hospital London & DeepMind – OCT-Analyse-Studien
- WHO (2021): Ethics & Governance of Artificial Intelligence for Health
- EU AI Act – Regulierung medizinischer Hochrisiko-KI
- Zentrum der Gesundheit: Erfahrungsbericht „Falsche Diagnose Nierensteine“
- Öffentliche Interviews/Aussagen von Eric Topol und Thomas Fuchs



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